Ich verspüre immer wieder den Drang, alle möglichen Kameras mal auszuprobieren. Gerade bei analogen Kameras finde es interessant, weil du da so fotografierst, wie es hinterher ist. Durch Zufall stolperte ich über die Ankündigung, dass es in einem meiner Hamburger Kameraläden meines Vertrauens jetzt die Lerouge 612 Lochkamera gibt. Genau mein Ding und für 150€ kannst du ja auch praktisch nichts falsch machen. Und schwupps stand ich am nächsten Tag im Laden und hatte den Holzkasten in der Hand. Weniger kann eine Kamera nicht sein! Vorne ein Loch, hinten ein archaisches Filmtransportsystem, fertig. Kein Sucher, keine Belichtungsmessung, kein automatischer Verschluss, keine Blendenwahl – nichts. OK, Wasserwaagen und Stativgewinde haben schon fast die Anmutung von Luxus.
Mit dem mittleren Knopf oben öffnet man das Gehäuse und kann den Rollfilm einlegen. Vorne siehst du den Schieber, der das Objektiv …äh… das Loch freilegt und die Belichtung startet. Links oben ist der Knopf für den Filmtransport und auf der Rückseite der Kamera kannst du ein Fenster öffnen, um beim Filmtransport zu sehen, wie weit du drehen musst, damit das nächste Bild aufgenommen werden kann. Die Lerouge Lochkamera ist das wenigste, was eine Kamera sein kann. Ein tolles Konzept.
Damit man gleich loslegen kann, gibt es auch beim Kauf einen Film dazu. Auch die erste Filmentwicklung ist im Kaufpreis mit inbegriffen, aber das habe ich abends dann gleich in meinem heimischen Labor aka Badezimmer selbst vollzogen.
Den ersten Film habe ich auch gleich mal voll verhauen, denn ich habe den Bildwinkel des für seine Größe recht leichten Gerätes total unterschätzt. So war auf jedem Film der Verschluss ..äh…Schieber mit abgebildet. Aber trotz des Malheurs haben mir die Ergebnisse gefallen und ich habe es am nächsten Tag gleich noch mal probiert.
Daher auch der Titel des Blogposts hier. Bei der sonnendurchfluteten Mittagszeit verwendete ich mit einem ISO100 Film die ungefähre Belichtungszeit von 16 Sekunden. Gemessen mit der Stoppuhr auf meinem Smartphone. Die Blende der Lerouge 612 hat nämlich die unvorstellbar hohe Zahl von 160! Das Loch ist so klein, dass praktisch alles scharf ist. Immer. Nichts für Leute, die gerne freistellen 🙂
Nun bedingt die Physik, dass natürlich Dinge, die weiter vorne sind, schärfer abgebildet erscheinen als weiter entfernte. Da die Brennweite mit 40mm angegeben ist – was im Querformat auf Kleinbild umgerechnet ca 13mm bedeutet – lohnt es sich eh, nah an die Dinge ranzugehen, die du gerne fotografieren möchtest. Auf Grund der enormen Weite des Negativs – die Kamera heißt Lerouge 612, weil sie im Format 6x12cm abbildet (exakt 54mm x 114mm) – sind die Ränder allerdings schnell unschön verzerrt. Es gibt eben auch keine korrigierenden Linsen im System, die diese Verzerrung korrigieren könnten. Du solltest also darauf achten, keine Menschen an den Bildrand zu postieren.
Da es keinen Sucher für die Kamera gibt, hilft nur raten. Wer in Geometrie aufgepasst hat, kann etwas besser raten. Schließlich ist auf dem Bild das, was der erweiterten Linie von Negativkante und Loch in der Mitte der Kamera entspricht.
Die Belichtungszeit kannst du prinzipiell mit einem Handbelichtungsmesser heraus bekommen. Ich habe tatsächlich auf Blende 4 gemessen und dann 11 Blendenstufen weitergerechnet. Tatsächlich sind zwischen Blende 4 und Blende 160 sehr genau Zehnzweidrittel Blenden Unterschied. Aber erstens ist die analoge Fotografie da nicht so genau und zweitens hilft bei Negativfilm die Überbelichtung für die Durchzeichnung der Negative.
Der erfahrene Fotograf ruft jetzt natürlich „Schwarzschildeffekt“ in den Raum. Dieser Effekt, der übrigens vor rund 150 Jahren entdeckt wurde, besagt, dass bei Belichtungszeiten länger als eine Sekunde, die Filmempfindlichkeit nicht mehr linear erfolgt. Daher habe ich die berechnete Belichtungszeit einfach noch mal verdoppelt. So kam ich bei Tageslicht auf 16 Sekunden Belichtungszeit. Die Aufnahmen von Dom sind dann sogar mit einer Minute bzw. 90 Sekunden entstanden. Hier ein paar Beispiele – größer ist schöner, daher bitte einmal anklicken 🙂
Beim ersten Bild der Galerie habe ich das komplette Negativ eingescannt. Da siehst du dann ganz gut, dass Planlage durchaus ein Problem bei der Lerouge 612 ist. Es fehlt eine Möglichkeit, den Film richtig gut zu spannen.
Fazit: die Lerouge 612 ist eine preiswerte und schön gebaute Lochbildkamera mit Negativen der sagenhaften Größe von 6 x 12 cm. Sie macht tolle Panoramabilder in überraschend guter Qualität, aber die Weite des Negativs ist für meinen Geschmack etwas zu viel. Bei 6x9cm Negativgröße wären die Ränder nicht so stark verzerrt. Die Verzerrung schränkt die Motivwahl etwas ein. Vielleicht hätte sie auch dicker gebaut werden müssen, um den Strahlengang nicht so extrem zu gestalten. Es gibt die Kamera auch als 6×6, da sind die Ergebnisse bestimmt deutlich besser.
Weitere Infos zur Lerouge 612 und andere Lerouge Kameras auf dieser französischen Seite, der Direktvertrieb in Deutschland erfolgt über MK Panorama Systeme. Hamburger können auch gleich im Photohaus fündig werden.
Disclaimer: ich habe die Kamera selbst gekauft und bezahlt, schreibe hier nur darüber, weil ich Lust dazu habe.
Lustig, die hatte ich im Photohaus auch in der Hand 🙂
Sehr sehr cool. Danke für Deinen Bericht. Macht Lust…
Nice!
sehr nerdig – und verrückt
Hallo Stefan,
vielen Dank für Deinen Hinweis auf den Review – macht Spaß zu lesen.
Wir fertigen (Philippe) und verkaufen (Marc) unsere LEROUGE Pinhole Cameras mit viel Leidenschaft und Engagement. Ich denke, das spürt man – wer Lust hat, kann uns auch gerne in Rosengarten besuchen (bitte zuvor Termin vereinbaren) und eine Kamera in die Hand nehmen …
Nochmals vielen Dank für Dein Engagement in Punkto „analoge Fotografie im neuen Design“.
Beste Grüße
Marc
Danke dir/euch für die Mühe, so eine schöne Kamera zu bauen.
Sehr gerne! Wir freuen uns, wenn Dir unsere Arbeit gefällt.
Lieben Grüß in die City
Marc
Danke für den tollen Review – macht richtig Spaß zu lesen!
Hallo Stefan,
ein schöner Bericht, den ich nun zum zweitem Mal gelesen habe! Das 6×12-Format finde ich unter den Panoramen sehr angenehm: Spürbar weiter als ein klassisches 2:3-Bild, aber noch kein schmaler Schlauch wie z. B. 6×17.
Das kleine Loch der Lerouge hört sich allerdings nach einem ziemlichen Lichtfresser an. Schade, dass dadurch das Fotografieren in der Dämmerung oder gar nachts so zum Geduldsspiel wird, wenn es denn überhaupt noch klappt. Ich habe in dieser Hinsicht gute Erfahrungen mit dem Fuji Acros 100 gemacht: Der erfordert bis 120 Sekunden keine Belichtungskorrektur, darüber muss man bloße eine halbe Blende draufschlagen. Wobei man auch einfach zu einem empfindlicheren Film greifen könnte…
Was die Motive angeht, kam mir die Idee, dass sich der Spieß auch umdrehen lässt: Anstatt Objekte zu fotografieren, die sich bewegen, könnte man sich stattdessen selbst bewegen – und dabei statische Motive fotografieren. Vielleicht ein Hafenpanorama von der fahrenden Elbfähre aus? (Wenn die nicht vor Touristen überquillt… und die HADAG Stative erlaubt.) Neu ist die Idee wohl nicht, aber sowas hat man noch nicht allzu oft gesehen (mir fallen dazu nur Herbert Böttchers coole „Seamotion“-Bilder ein).
Viele Grüße
Christian
Moin, Du hast mit allem recht, was du schreibst. Letztlich ist das Format natürlich Geschmackssache, daher habe ich mir noch die 617 von Ondu gegönnt – ich bin aber noch nicht so richtig dazu gekommen, die richtig auszuprobieren. Der erste Eindruck war aber schon besser als bei der Lerouge 612, weil die Verzeichnung am Rand bei Ondu geringer ausfällt, und das trotzdem des größeren Formats. Dafür ist das Handling echt schwierig…
Das Handling ist natürlich so eine Sache, stimmt. Je anspruchsvoller, desto mehr weiß am Ende die Resultate zu schätzen. Wenn jedoch zu viele Rückschläge auftreten, verliert man schlimmstenfalls die Lust am Projekt. Aber wem ich erzähle ich das? Vielleicht gibt es bei dir ja noch ein Sommerloch, sodass du mal wieder mehr Zeit für dieses Thema hast. 🙂
617 macht sich bestimmt prima an der Wand. Bloß in unserer Bildschirm-zentrierten Welt gerät das Format leider etwas ins Hintertreffen, finde ich.