The Sonderzug Files

Aus dem Shuttlebus heraus fotografiert
Aus dem Shuttlebus heraus fotografiert

Die Auswärtsfahrt jeder Saison zum letzten Spiel des magischen FC ist legendär. Es gibt für diesen Sonderzug ein Vorkaufsrecht für Fanclubs, das bis Ende Januar ausgeübt werden muss. Diesmal kamen auf 850 Plätze rund 1300 Bestellungen. Wie der Fanladen es schafft, diese Bestellflut abzuarbeiten und einigermaßen gerecht zu verteilen, ist aller Ehren wert. Aber gut: das ist die Arbeit vom St. Pauli Fanladen eh. Grandiose Menschen!

Im Sonderzug gibt es zwei Partywagen, in denen jeweils eine Tresencrew und jeweils ein DJ dafür sorgen, dass während der kompletten Fahrt gute Laune, frische Getränke und die Möglichkeit das Tanzbein zu schwingen, vorherrscht. Unnötig zu erwähnen, dass alle ehrenamtlich arbeiten und die Erlöse des Getränkeverkaufs sozialen Projekten zugute kommen. Die Crews hinter Tresen und Plattenteller wechseln natürlich und so wabern unterschiedlichste Musikrichtungen während der Fahrt durch den kompletten Zug. Denn die Ideen der DJs von Musik können über die normalen Lautsprecher in den Abteilen abonniert werden. Machen – glaube ich – alle. Gefühlt startet das bei Deathmetal und endet bei Schlager. Für jeden Menschen mit zwei gesunden Ohren durchaus eine Herausforderung, aber meine Freejazz Wünsche werden nie von den DJs aufgenommen. Verstehe ich gar nicht. So lerne ich dann tolle Gassenhauer kennen, wie zum Beispiel Karl Dalls „Heute schütte ich mich zu“. Oder Mike Krüger mit seiner Ode an den Bundeswehrsoldaten. Ich hatte meiner Frau kleine Videosequenzen mit dem Handy aufgenommen, denn sonst glaubt sie mir ja nicht, welche Songs Hardcore Sankt Pauli Fans mitgröhlen können. Es gibt natürlich auch schicke Lieder, die ich mir hinterher noch gerne anhöre. Gebe ich gerne zu. Diesmal war Eight Balls mit „Individuell“ sehr beliebt. Kann man bedenkenlos mitgröhlen. Niveau ist eben doch eine Handcremé.

Ein Wunder für mich war mein erster Sitzplatznachbar J., der erst rund drei Stunden bei melodielosem Deathgeschrammel schlief, um aufzuwachen, sofort textsicher das gerade laufende Lied mitsingen konnte, bei dem ich nicht mal wusste, dass die Laute aus dem Lautsprecher überhaupt echte Worte waren, und sich ein Bier öffnete. Vielleicht war es aber auch umgekehrt: also erst Bier und dann Singen. Keine Ahnung. Ich staune da immer noch drüber.

Und das ist das Tolle an diesem Sonderzug. Die Menschen. Alles kann, nix muss. Jeder darf so sein, wie er will. Niemand stört sich daran, dass im vollbesetzten Abteil der Duft schweissnasser Socken auf den von handgerollten Frikadellen trifft. Wahnsinnig viele helfende Hände und Köpfe sorgen für beschwerdefreies Reisen. Teile vom Aufsichtsrat waren zum Beispiel fast permanent im Partywagen, aber nicht zum Feiern, sondern sie sorgten für reibungslosen Ablauf. Aufopferungsvolle Menschen ziehen sich ein „Ordner“ T-Shirt an und schauen nach dem Wohlbefinden der Reisenden. Jeder bringt so viel zu essen mit, dass er teilen kann und tut dies auch. Selbst, wenn er sein Gegenüber gerade das erste Mal sieht. Es gibt zahllose Beispiele, bei denen Einzelne mit ihrem Einsatz einen Mehrwert für viele schaffen. Unmöglich alle aufzuzählen ohne jemanden zu vergessen. Daher nur kurz: DANKE!

Gerade lese ich auf Facebook, dass N. sich herzlich bei den Reisenden bedankt. Ich dachte, wir müssten uns bei ihm bedanken. Schließlich rannte er permanent durch den Sonderzug und sammelte Pfanddosen und Flaschen aus dem Müll. Verrückte Welt.

Es war meine zweite Sonderzug – Fahrt und ich würde jederzeit wieder in einen einsteigen.

Diesmal war die Stimmung besonders gelöst, allerdings erst auf der Rückfahrt. Die Hinfahrt war geprägt von nervöser Anspannung. Dazwischen verabschiedeten sich einige Nerven, ob des dramatischen Saisonabschlusses. Ich selbst habe ehrlicherweise erst so ungefähr auf der Höhe von Lüneburg ganz langsam angefangen zu begreifen, dass die Saison jetzt vorbei ist.

Eigentlich heißt es ja „Was im Sonderzug passiert, bleibt auch im Sonderzug“. Es heißt aber auch: „Bilder, oder es ist nicht passiert“. Ziemlich nachvollziehbar, dass für mich letzteres eine noch stärkere Gewichtung hat. Um der Bedeutung dieses wundervollen Reiseerlebnisses im Sonderzug mit den Fanladen-Tours einigermaßen gerecht zu werden, habe ich mich entschieden zwei Filme mit meiner Leica M4 durchzuziehen. Für die nicht so kamera-affinen Menschen: die Leica M4 ist eine rein mechanische Kleinbildkamera ohne Elektronik. Es gibt also zum Beispiel keinen Belichtungsmesser. Autofokus sowieso nicht. Ich mag die Leica M4 sehr, da es ein sehr reines Fotografieren ist. Nichts lenkt ab. Die Kamera hilft dir nur minimal beim Fotografieren. Jeden Fehler den ich mache, verschulde ich. Keine Automatik oder sonstige CPU, der ich den Fehler in die Schuhe schieben könnte.

Selbstverständlich hat die folgende kleine Bildergalerie nicht den Anspruch, eine vollständige Reportage über den Sonderzug zu sein. Dafür müsste ich mindestens zehn mal so viele Filme vollknipsen. Oder ich müsste mit 15 anderen Fotografen permanent durch den langen Zug rennen. Es passiert zu viel. Es sind nur meine persönlichen Sequenzen einer wunderbaren Fahrt, an die ich noch lange und voller Freude zurückdenke. „Wer es nicht fühlt, kann es nicht verstehen.“

Für die Fotografie-Interessierten: alles fotografiert mit Leica M4, dem Zeiss 50mm f/1.5 Sonnar und dem Leica 24mm Summilux auf Kodak Tri-X 400 – morgens auf ISO200 belichtet und in HCD 80 & HCD 20 entwickelt, abends und nachts auf ISO800 belichtet und in HCD 80 & HCD 50 entwickelt. Belichtungszeit in den meisten Fällen 1/60s bei meistens weit geöffneter Blende.